Entscheidungen treffen unter Ungewissheit: Fermisieren Sie

Ungewissheit herrscht überall dort, wo zukünftige Entwicklungen nicht abgeschätzt werden können oder für Entscheidungen notwendige Informationen fehlen. Doch wie können Sie Abschätzungen für Probleme vorzunehmen, für die zunächst keine Daten vorliegen? Hier hilft Ihnen die Technik des „Ferminisierens“

Stellen Sie sich folgendes vor: Sie haben ein perfektes Rezept für Pizzateig entwickelt und sind überzeugt, dass Sie aufgrund der geschmacklichen Qualität trotz der vielen Mitbewerber am Markt Erfolg haben können. Allerdings sind die Herstellungskosten in geringer Produktion relativ hoch, sodass sie wirtschaftlich nur dann erfolgreich sind, wenn Sie viele (idealerweise große) Pizzen produzieren.

Ein Bekannter hat sie jetzt auf die Idee gebracht, dass Sie in unmittelbarer Nähe von Universitäten den nötigen Absatz erreichen könnten.

Die Frage, die Sie jetzt beschäftigt: Wie viele Quadratzentimeter Pizza verzehren die Studierenden der Universität Wien in einem Semester?

Wenn Sie jetzt einwenden, dass dieses Beispiel reichlich konstruiert wirkt und man diese Fragestellung mit einer Kundenbefragung beantworten kann, dann haben Sie natürlich recht. Die Fragestellung ist angelehnt an eine Frage, mit der der Entwickler der hier vorgestellten Technik seine Studierenden anregte, quantitative Abschätzungen für Probleme vorzunehmen, für die zunächst keine Daten vorliegen.

Enrico Fermi, einer der bedeutendsten Kernphysiker des 20. Jhdts., war unter anderem bekannt dafür, dass er – trotz anfänglich fehlender Informationen – sehr präzise Abschätzungen vornehmen konnte.

Dazu stellte er sich zunächst die Frage, was er wissen müsse, um ein Problem zu lösen bzw. zerlegte er das zu lösende Problem in mehrere Subprobleme, für die entweder Informationen vorhanden sind oder für die Schätzungen leichter vorgenommen werden können.

Die Technik des Fermisierens

Demonstriert sei die Technik des Fermisierens (Tetlock, 2016) anhand einer meiner Lieblings-Bewerbungsfragen, von der ich vor längerer Zeit gehört habe und die vermutlich so manchem Bewerber Kopfzerbrechen bereitet hat:

Wie viele Tankstellen gibt es in Österreich?

Was müsste ich also wissen, um diese Frage beantworten zu können?

  • Eine Möglichkeit wäre, sich der Lösung über die Frage zu nähern, wie viele Tankstellen in einer durchschnittlichen Ortschaft in Österreich stehen.
  • Eine andere Möglichkeit besteht darin, das Problem über die Länge des Straßennetztes und den Abstand zwischen zwei Tankstellen anzugehen.

Sicherlich gibt es noch andere Lösungswege, zur Demonstration des Fermisierens sei hier die zweite Möglichkeit demonstriert.

Wenn ich also wüsste, 1) wie lange das Straßennetz in Österreich ist und 2) in welchem Abstand Tankstellen entlang von Straßen stehen, könnte ich die Frage nach der Anzahl der Tankstellen in Österreich beantworten.

Nur leider weiß ich auch auf diese beiden Fragen nicht die richtigen Antworten.

Deshalb breche ich die erste Frage noch einmal herunter:

Wie viele Kilometer Autobahnen und Schnellstraßen gibt es in Österreich?

Auch auf diese Frage kann ich keine sichere Antwort geben, aber eine Schätzung fällt mir wesentlich leichter als bei der Frage nach der Gesamtlänge des österreichischen Straßennetzes.

Ich gehe davon aus, dass mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit das Autobahnnetz nicht kürzer als 2.000 km und nicht länger als 8.000 km ist. Von diesem festgelegten Vertrauensintervall ausgehend schätze ich das österreichische Autobahnnetz auf 5.000 km.

Um auf die Gesamtlänge der österreichischen Straßen zu schließen, stelle ich mir als nächste Frage, welchen Prozentsatz am Straßennetz Autobahnen ausmachen.

Auch diese Frage kann ich nicht eindeutig beantworten, weshalb ich wieder eine Ober- und Untergrenze festlege: Ich gehe davon aus, dass Autobahnen und Schnellstraßen 1 bis 9 % des österreichischen Autobahnnetzes ausmachen. Auch hier wähle ich wieder die goldene Mitte und lege mich auf fünf Prozent fest.

Kombinieren wir diese beiden Schätzungen, dann komme ich auf eine geschätzte Gesamtlänge des österreichischen Straßennetzes von 100.000 km, womit die erste Sub-Frage beantwortet ist.

Um Sub-Frage 2 zu beantworten, greife ich wieder auf die für mich leichter einzuschätzenden Autobahnen und Schnellstraßen zurück: In welchem Abstand stehen Tankstellen im Durchschnitt an Autobahnen?

Hier liegt meine Schätzung bei einem durchschnittlichen Abstand von 35 bis 40 Kilometern, womit ich auf einen Schnitt von 37,5 km komme.

Doch neben Autobahnen und Schnellstraßen gibt es auch Landes- und Gemeindestraßen, womit sich die nächste Frage ergibt: Kann ich diese Schätzung auf Landes- und Gemeindestraßen übertragen?

Gehe ich gedanklich mir bekannte Landes- und Gemeindestraßen durch, dann schätze ich, dass die Tankstellen-Dichte im einen Fall (Landesstraßen) höher und im anderen Fall (Gemeindestraßen) niedriger ist, weshalb ich davon ausgehe, dass ich meine Schätzung von den Abständen auf Autobahnen auf alle Straßentypen übertragen kann.

Damit muss ich nun nur mehr meine geschätzten Straßenkilometer (100.000) durch den durchschnittlichen Abstand zwischen zwei Tankstellen dividieren (37,5).

Das Ergebnis: 2.667 Tankstellen.

Doch wie gut ist dieses Ergebnis?

Laut einer Statistik der Wirtschaftskammer Österreich gab es 2.733 Tankstellen im Jahr 2019 entlang Österreichs Straßen, womit die vorgenommene Schätzung um gerade einmal 2,4 % abweicht. Damit ist das durchaus ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann – auch wenn die Schätzung über die Länge des österreichischen Straßennetztes, das insgesamt 124.510 km beträgt, wesentlich ungenauer ist.

In Bezug auf die Frage, wie viele Tankstellen es in Österreich gibt, ist es natürlich sinnvoller, einfach im Internet zu recherchieren, doch überall dort, wo dies eben nicht möglich ist (wie z.B. wie viele Quadratzentimeter Pizza isst ein durchschnittlicher Student?) ist Fermisieren eine gute Methode, um bei Ungewissheit zu brauchbaren Abschätzungen zu kommen.

Deshalb wird diese Technik in den Naturwissenschaften auch gelehrt, trainiert und erfolgreich angewandt.

P.S.: Das bekannteste Fermi-Problem lautet übrigens: Wie viele Klavierstimmer gibt es Chicago?

Und für all jene, die ein (romantisches) Fermi-Problem für den Alltag lösen wollen: Fermisieren Sie doch einmal, wie viele potenzielle Ehepartner/innen es in Wien für Sie gibt.

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